Stadt? Land! Fluss:

Die Antwort ist multilokal.

KONstruktiv 302,
Zeitschrift der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten Juni 2016, www.daskonstruktiv.at

Stadt? Land! Fluss:

Die Antwort ist multilokal

Wo sollen wir leben..? In der Stadt. Über die Hälfte der Weltbevölkerung lebt bereits in Städten – im Jahr 2050 werden es aller Voraussicht nach drei Viertel sein.(1) Flächenmäßig bedecken Städte aber lediglich zwei Prozent der Erdoberfläche. Dabei verbrauchen sie aber 75 Prozent der weltweit benötigten Energie und produzieren 80 Prozent aller Treibhausgase.(2) Also auf dem Land. Warum sollten wir unser Augenmerk immer nur auf die urbanen (weißen) Flächen richten, die geografisch gesehen einen sehr kleinen Teil unserer Welt ausmachen?

 

Außerdem wissen wir seit Koolhaas, dass Veränderungen auf dem Land viel schneller passieren als in den meisten Städten und dass Landschaft kein unberührter Naturraum mehr ist.(3) Aber was hat sich eigentlich wirklich verändert? Während noch in den 1970er Jahren die Vororte und das Leben auf dem Land als Wohnideal galten, konnten sich seither die Städte mehr und mehr von ihrem alten Image des verdreckten, hektischen und lärmenden Molochs lösen.(4) Gleichzeitig haben sich manche Klischees: »Wofür steht die Stadt?« und: »Was sind die Vorzüge des Lebens auf dem Land?« geradezu umgekehrt. Stadt oder Land – alles ist im Fluss. Hier ein Erklärungsversuch in zehn Episoden.

Anm.: Die folgenden Beispiele beruhen auf persönlichen Beobachtungen auf dem (österreichischen) Land und beschreiben den Handlungsspielraum, den man als Gestalter vorfindet – oder eben nicht vorfindet, wenn man sich für eine menschenwürdige, lebenswerte Umgebung engagiert. Die Geschehnisse spielen weder in Lahnenberg und Braunschlag noch Dogville oder Twin Peaks, auch wenn sich der Autor herzlich bei Felix Mitterer, David Schalko, Lars von Trier und David Lynch für die fiktive Inspiration bedankt.

Episode 1: Die Gemeinschafts-Lüge.

“Unsere Kinder sollen gut behütet mit guter Luft und in gesunder Atmosphäre aufwachsen”. So lautete einst die Argumentationskette, warum wir auf dem Land leben sollten. Neben den klimatischen Vorzügen waren damit vor allem die ausgeprägtere soziale Interaktion innerhalb einer Dorf- und Siedlungsgemeinschaft gemeint. Die Kinder treffen sich alle nach der Schule auf dem Spielplatz im Dorfzentrum. Und wie stellt sich das heute dar? Da gilt das beschriebene Szenario eher für die urbanen Grätzel der Stadt, in denen der öffentliche Raum rückerobert wurde. Auf dem Land leben die Familien in ihren Einfamilienhäusern mit Eigengarten und adäquater repetitiver Spielegeräteausstattung, die zum Status gehört. Somit gibt es pro “Kirchengasse” fünf Hupfburgen, drei Schaukeln und vier Rutschen, aber keinen Bedarf für einen öffentlichen Spielplatz – wären da nicht die Flüchtlingskinder.

Episode 2: Dein Dorfplatz besteht aus sieben Szenarien.(5)

Wie geht man also als Gestalter auf dem Land mit dem oben beschriebenen Phänomen, das natürlich auch für die Erwachsenenwelt gilt, um? Man beobachtet für einen Ort typische Situationen und macht Notationen, wie: “der Bach, der kreuzt” und: “der Weg, der teilt.” – und entwickelt ein Programm aus Szenarien für repräsentative Dorfbewohnerinnen, wie: die Gärtnerin, das Mädchen auf der Schaukel, den Genießer. Damit richtet man sich in einem offenen Brief an die Dorfgemeinschaft: (Auszug)
“Dein neuer Dorfplatz besteht aus 7 Szenarien. Wenn du beim Eingang stehst, merkst du gleich: Die Brücke über den kleinen Fluss ist jetzt viel breiter und hat kein Geländer mehr, da auch der Bach jetzt viel höher liegt. Das scheint uns angemessen, da dieser unserem Ort immerhin seinen Namen gibt. Wenn du ein Genießer bist, kannst du dich also gleich auf diese neue Plattform setzen und deine Füße ins Wasser stecken, aber bitte passe ein bisschen auf die Seerosen auf. Die hat unsere Gärtnerin neu gesetzt. (…)”

Episode 3: Das Tote Haus.(6)

Das Tote Haus steht stellvertretend als Platzhalter für eine unangenehme Haus-Typologie, die uns zusehends beschäftigt: der Leerstand. Alle Vorschläge dem Toten Haus wieder Leben einzuhauchen, verstehen sich daher eher als Initialzündung, denn als maßgeschneidertes Renovierungskonzept. Tote Häuser gibt es schließlich in jeder einzelnen Gemeinde.

Das Tote Haus war das “erste Haus” im Dorf. Was kann man als Planer ungefragt und ohne Mandat machen, wenn einem das auffällt? Man belegt die Bedeutung des Hauses für den Ort, indem man auf Lage, Proportion und Typologie hinweist. Und: man untersucht, mit welch geringem Einsatz von Mitteln das Tote Haus wieder lebendig wäre und welche kurzfristigen Bespielungen den Dorfkreislauf anregen könnten. Der Gemeinderat hört aufmerksam zu und stellt es gleich einem Investor vor. Dieser hat gleich zugesagt – unter einer Bedingung: Er wünscht keine Einmischung, wenn er seinen Neubau nach tiroler Vorbild – also Betonhaus, rund mit Holzschindeln – umsetzt. Die Folge war die Ermordung des Toten Hauses. Es war ein schneller Tod.

Episode 4: Die Eulen sind nicht was sie scheinen.(7)

Douglastannen links und rechts der Bundesstraße. Nur ein kleiner Vogel, ein Buschzaunkönig, schaut zu, wie die Kreissäge des lokalen Sägewerkes langsam, aber notorisch Bäume in Stapelholz verwandelt. Ehrliche Maschinenarbeit in dörflicher Idylle. Doch Vorsicht: “Die Eulen sind nicht was sie scheinen”. Nahe dem Fluss findet sich ein lebloser Frauenkörper, eingehüllt in Plastik. Es ist Mord.(8)

 

Episode 5: Das Gelbe Haus.(9)

Das kleine Haus liegt auf dem Dorfplatz und gehört dem Musikverein, der keine Verwendung mehr dafür hat. Und: es liegt in der “Gelben Zone”, jener Gefahrenzone, die durch Hochwässer gefährdet ist. Nun sucht die Gemeinde nach einem Programm für ein nutzlos gewordenes Haus, denn: würde man es abreissen, dürfte man dort nie wieder etwas bauen. Damit ergibt sich ein interessanter Auftrag für Gestalter: Schlage etwas vor, von dem wir bisher noch nicht gewusst haben, dass wir es brauchen und überlege dir etwas, damit wir nicht Gefahr laufen etwas zu verlieren, wofür wir momentan keinen Nutzen sehen.

Episode 6: Das Haus ist nur ein Dach.(10) Das Haus, das hat kein Dach.(11)

Die weibliche Figur zeigt dem Kind den wahren Ursprung der Baukunst, die “Urhütte” aus Baumstämmen, die durch vier Rundhölzer verbunden sind und eine Art Dach tragen. Auch wenn die Vitruvianische Urhütte, vor allem in der allegorische Darstellung von Charles Eisen in Laugiers “Essai sur l’architecture”(12) das Dach als bestimmendes architektonisches Element zeigt, lösen nach unserer Erfahrung Dächer bei neuen Architekturen auf dem Land die größten Kontroversen aus. Manchmal muss man diese als Gestalter in ein Projekt hinein reklamieren und manchmal muss man sich rechtfertigen, weil man scheinbar auf sie vergessen hat. So gelang es uns, z.B. bei einem Infrastrukturprojekt die Bauherren davon zu überzeugen, dass sie kein neues Haus brauchen. Verkürzt erzählen wir immer an dieser Stelle: Sie fragten uns nach einem Haus, aber ein Haus bestand schon. Deshalb entwickelten wir ein Dach…
Andererseits verlangte ein zweites Projekt aus dem gleichen Entstehungsjahr und nur ein paar Hundert Meter entfernt realisiert, ein monolithisches Haus, das einen Holzstapel des lokalen Sägewerkes zitiert. Holzstapel haben nunmal nur eine schützende horizontale Abdeckung und kein Dach. Was zur Folge hatte, dass unsere Hütte von da an als Haus, das kein Dach habe, kommuniziert wurde.

 

Episode 7: Ich habe auch meine Ideen. Wenn Bürgermeister gestalten.

Als Vorzüge von Planungsprozessen auf dem Land gelten kürzere Wege und wenige Entscheidungsträger. Der Bürgermeister ist manchmal auch Projektant und sein Vize ausführendes Organ. Das entspricht zwar nicht ganz der Gewaltentrennung, hilft aber, wenn man selber seine Ideen hat. Es soll ja in unserem Land auch Bürgermeister geben, die sich in Gestaltungsfragen gerne und unabhängig beraten lassen, dem Argument folgend: Es könne ja nicht so sein, dass sich das Dorf nach dem Geschmack des Bürgermeisters oder eines Investors entwickelt. Das ist nicht überall so.

Episode 8: Der Tourismus hat immer Recht.

Wenn “was geht”, dann für den Tourismus. Fördermittel werden vorwiegend für touristische Projekte ausgeschüttet. Der Wert für die Allgemeinheit ist immer an den Index für den Tourismus gebunden. Will man der flüchtenden Landbevölkerung den öffentlichen Raum, der für die Touristen reserviert scheint, zurückgeben, dann tut man das am besten versteckt. Denn wenn dann die Touristen doch nicht in der selbstbewusst formulierten Anzahl kommen, nützen die Maßnahmen am Ende gar den ansässigen Bewohnern, die den Wert des wiedergewonnenen öffentlichen Raumes vor lauter Eigengärten ja erst wieder entdecken müssen.

Episode 9: Das autogerechte Land.

Die Idee einer “autogerechten Stadt”(13), die sich an den Bedürfnissen des motorisierten Individualverkehrs orientiert und damit das Auto zum Maß aller Ding macht, gilt als überwunden. Auf dem Land ist das noch nicht ausgestanden. Anfänglich wundert man sich, dass großzügige Verbreiterungen von Fußgängerbrücken so leicht durchzusetzen sind, bis man merkt, dass man sich damit eine Autobefahrbarkeit eintritt und freie Räume am Dorfplatz für Parkflächen rückerobert werden. Selber Schuld. Gut gemeint, Planer! Aber schlecht aufgepasst.

Episode 10: Oberflächen-Erscheinungen.

Werden also einfach alle Fehler, die in den Städten passiert sind, zeitversetzt analog auf dem Land wiederholt? Nein. Das Land ist heute einfach ein gut gepflegter Ort, wo Oberflächen-Erscheinungen – früher “die Fluren” – kaum mehr Rückschlüsse erlauben, was auf/unter der Erde und in den Häusern geschieht.(14)

 

Der große Walter Pichler, 2012 verstorben, Doyen im Grenzbereich von Skulptur und Architektur, selbsternannten “Häuslbauer” für seine eigenen Plastiken, ein früher multilokaler Bewohner – noch bevor der Begriff existierte – zwischen Wien und St.Martin im Burgenland hat mir einmal erzählt: “Das Land brauche ich nicht. Ich schätze nur den vielen Platz…”

Christian Fröhlich

 

  1. UN HABITAT (Hg.): State of the World’s Cities 2010/2011. Nairobi, United Nations Human Settlements Programme 2007. S. 12.
  2. https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/urbanisierung-die-stadt-von-morgen/
  3. http://www.iconeye.com/architecture/features/item/11031-rem-koolhaas-in-the-country
  4. https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/urbanisierung-die-stadt-von-morgen/
  5. http://harddecor.at/work/dein-dorfplatz-besteht-aus-sieben-szenarien/
  6. http://harddecor.at/work/das-tote-haus/
  7. aus: Twin Peaks, TV-Serie, USA, 1990-91, Mark Frost and David Lynch.
  8. subjektive Narration des Intros zu Twin Peaks.
  9. http://harddecor.at/work/das-gelbe-haus/
  10. http://harddecor.at/work/das-haus-ist-nur-ein-dach/
  11. http://harddecor.at/work/stapelhaus/
  12. https://de.wikipedia.org/wiki/Marc-Antoine_Laugier#/media/File:Essai_sur_l%27Architecture_-_Frontispiece.jpg
  13. Das Schlagwort “autogerechte Stadt” leitet sich ab vom Titel des 1959 erschienenen Buches “Die autogerechte Stadt – Ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos” des Architekten Hans Bernhard Reichow.
  14. http://www.iconeye.com/architecture/features/item/11031-rem-koolhaas-in-the-country