Die Regionen
Beide Regionen zeichnen sich sowohl durch hochwertige, denkmalgeschützte Baukultur aus, als auch durch die 16 Viadukte und über 100 Überführungen der Semmeringeisenbahn, die sich durch die malerische Landschaft schlängelt. Mit ihr schuf Ingenieur Carl Ritter von Ghega zwischen 1948 und 1853 die erste Hochgebirgseisenbahn der Welt. Sie wurde 1998 mit einer Kernzone von 156 ha Fläche und einer umgebenden Pufferzone von 8,581 ha Fläche in die Liste des UNESCO Welterbes aufgenommen. Eine Region, die sich über die zwei Bundesländer Niederösterreich und Steiermark erstreckt Lebensraum für rund 20.000 Menschen, zusätzlich traditionelle Sommerfrische, Zweitwohnsitz und Naherholungsgebiet für aus Wien kommende Erholungssuchende und beliebtes Reiseziel für Touristen.
Neben den Qualitäten des gebauten und immateriellen Kulturerbes gibt es zahlreiche Probleme: zunehmende Leerstände in Ortschaften, geschlossene Geschäfte, das Fehlen von Angeboten regionaler Produkte. Orte verlieren an Attraktivität, traditionelle Handwerksberufe sterben aus, die Jugend verliert Ausbildungsplätze, Einwohner und Einwohnerinnen wandern ab.
Doch es gibt, oft nicht wahrgenommen von der Bevölkerung, Chancen, Potentiale und ungenutzte Ressourcen. Diese sichtbar und bewusst zu machen, ist ein erster Schritt zur Entwicklung von Visionen für eine nachhaltige Zukunft.
Das Pilotprojekt Handwerk & Baukultur
Also entwickelte man ein ambitioniertes Pilotprojekt. Der im März 2023 gestartete Prozess erweitert in mehreren Etappen die von den Gemeinden im „Strategieplan 2021-2025 für die Weltkulturerberegion Semmering“ verankerten Ziele, wie unter anderen die Forcierung neuer kreativer Arbeitsstätten und die Stärkung der Vermarktung regionaler Produkte. Der Fokus richtet sich auf die Themen Arbeitsplätze, Regionalität, Wertschöpfungsketten, Standortsicherung, Finanzen, Vernetzung von Kultur und Identität und Handwerk.
Ein nachhaltiger Strukturwandel soll die Standortentwicklung der Region sichern. Ressourcen vor Ort, wie Gebäudebestand, kulturelle Einrichtungen, Anzahl und Art von Gewerbe- und Handwerksbetrieben, die demografische Entwicklung zwischen Abwanderung, Zweitwohnsitzen, Tourismus und Sommerfrische werden erhoben und analysiert.
Initiative und Idee
Initiative und Idee zu dem Projekt stammt von der Architektin DI Johanna Digruber. Sie stammt selbst aus dem ländlichen Raum. 2008 gründete sie mit ihrem Partner das Studio HARDDECOR ARCHITEKTUR in Wien und Mitterbach am Erlaufsee. “Architekt*innen sind weit über das Planen von Einzelgebäuden tätig. Baukultur umfasst Themen wie Stoppen des Bodenverbrauchs, der Schaffung von Lebensqualität in Orten, nachhaltigen Tourismus, klimaschonende Mobilität und vieles mehr.” So richtet sich der Blick von Johanna Digruber auf die Situation und die Entwicklung ländlicher Regionen, für die langfristige, gesamtheitliche und nachhaltige Konzepte dringend nötig sind.
Netzwerke
Um Visionen in nachhaltige, konkrete Projekte umzusetzen braucht es regionale Netzwerke, ambitionierte Teilnehmende aus hier lebenden und verankerten Menschen, die mit Unterstützung von Vertretern aus Politik, Verwaltung und die Hilfe erfahrener Projektmanager, die den Blick von außen beitragen, den Prozess begleiten. Wichtig ist zudem, dass die Politik den Wert der Initiativen erkennt und diese fördert sowie finanzielle Ressourcen bereitstellt.
Die ersten Treffen von Interessierten fanden im März und April 2023 im Südbahnhotel am Semmering und im Literaturhaus der Schlossgärtnerei Wartholz in Reichenau an der Rax statt. Vorträge von Experten und Expertinnen aus Handwerk, Politik, Ausbildung und Forschung gaben zu verschiedenen Themen ihr Wissen und ihre Erfahrungen weiter und ergänzten das Programm. Solcherart motiviert und aufgeladen widmeten sich die Teilnehmenden in Workshops konzentriert der Entwicklung von kurz- und langfristig umsetzbaren Ideen. Die Bandbreite der Visionen umfasst alle Bereiche des sozialen und wirtschaftlichen Lebens: Lösungen für die Aktivierung von Leerständen, der Nachverdichtung von Ortskernen, einer zukunftsfähigen Verkehrspolitik, der Schaffung von klimafitten Stadt- und Ortskernen, den Erhalt von Biodiversität und Grünraum, der Flächenentsiegelung, Ausbildungsmöglichkeiten für die Jugend, der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Belebung der Regionen. Weiters wurde der Umgang mit historischer Bausubstanz und der Belebung und den Erhalt des Handwerks diskutiert und auf Umsetzbarkeit abgeklopft.
Handwerkshöfe als neue Zentren
Johanna Digruber etwa sieht in der Errichtung von Handwerkshöfen eine Möglichkeit, mit der gleich mehrere Themen unter einen Hut gebracht werden könnten. In Handwerkshöfen, errichtet in Leerständen, wie aufgelassenen Bahnhöfen oder leerstehenden Ortszentren, könnten sowohl Ausbildungsplätze geschaffen werden als auch durch Verknüpfung von Wohnen und Arbeiten neue Informations- und Kommunikationszentren entstehen, wo Handwerk ausgestellt werden kann. Es gibt Vorbildprojekte, wo solche Maßnahmen zu einem nachhaltigen Erfolg geführt haben, wie z.B. den 1999 gegründeten Werkraum Bregenzerwald, der dazu beitrug, dass Handwerk und Gewerbe im Bregenzerwald mittlerweile die größten Arbeitgeber der Region sind. Nirgendwo in Europa gibt es eine vergleichbare Dichte an Handwerksbetrieben.
„Langfristiges Ziel sei es“, so Joachim Köll, Vizebürgermeister von Payerbach, „die Abwanderungsregion zu einer Zuwanderungsregion zu machen, Ausbildungshöfe sollen einen Mehrwert für Betriebe und die Bevölkerung schaffen“.
Interviews
Dr. Karl Stingl
(Informations- und Weiterbildungszentrum Baudenkmalpflege Kartause Mauerbach):
DI Heidrun Bichler-Ripfel
(Leitung Institut für angewandte Gewerbeforschung (IAGF))
Maria Walcher
(freiberufliche Expertin für Immaterielles Kulturerbe, Moderatorin, Autorin und Kulturvermittlerin. Entwicklung und Leitung des Fachbereich Immaterielles Kulturerbe in der Österreichischen UNESCO-Kommission von 2006-2016)
https://www.unesco.at/kultur/immaterielles-kulturerbe/oesterreichisches-verzeichnis
DI Christian Haas
(Revitalisierungsförderung, Erhaltung der regionstypischen Baukultur in der Steiermark. Amt der Steiermärkischen Landesregierung)
Jonathan Feiner
(Metallbauunternehmer, Hönigsberg)
Johannes Dinhobl
(Baumeister, Wiener Neustadt)
Joachim Köll, MSc
(Vizebürgermeister Payerbach, Stv. Obmann Verein Weltkulturerbe Region Semmering – Rax)
Mag.a Veronika Nutz
(Projektmanagerin Standortentwicklung Semmering, Ecoplus Alpin)
Peter Ledolter
(Restaurator, Enzenreith)
Handwerk & Baukultur I Videomitschnitt Tag 1
Handwerk & Baukultur I Videomitschnitt Tag 2
Kontakt und Rückfrage:
Arch. DI Johanna Digruber
HARDDECOR ARCHITEKTUR
digruber@harddecor.at
+43 664 541 5643
Westbahnstrasse 8 D1 | A-1070 Wien
Hauptstraße 25 | A-3224 Mitterbach am Erlaufsee
http://harddecor.at
Das Pilotprojekt Handwerk & Baukultur
Die Weltkulturerbe-Region Semmering-Rax besteht aus den acht Gemeinden Breitenstein, Gloggnitz, Payerbach, Prigglitz, Reichenau an der Rax, Schottwien, Schwarzau im Gebirge und Semmering. Die Kleinregion bildet einen Teil der Leader-Region NÖ-Süd, weiters sind die vier Gemeinden Gloggnitz, Reichenau an der Rax, Payerbach und Schwarzau im Gebirge der Klima- und Energiemodellregion Schwarzatal angeschlossen. Die Welterbe-Region Semmering-Schneealpe besteht aus den vier Gemeinden Neuberg an der Mürz, Spital am Semmering, Langenwang und Mürzzuschlag. Sie ist Teil der Leader Aktionsgruppe Mariazellerland-Mürztal.
Initiatorinnen Pilotinstrument Land
Das Forschungs- und Modellvorhaben wurde von Johanna Digruber (HARDDECOR ARCHITEKTUR) gemeinsam mit Susan Kraupp (skstadtplanung&architektur) als ARGE Pilotinstrument Land ins Leben gerufen um auf die drängenden Agenden in Bezug auf Baukultur im ländlichen Raum und die damit einhergehenden notwendigen Planungsprozesse einzugehen.
Während in den ersten forschungsfokussierten Phasen in diesem Kontext die ersten Pilotmodelle entwickelt wurden, werden diese Instrumente von den jeweiligen Büros als eigenständige Pilotkonzepte in die Umsetzungsphase überführt und in Zusammenarbeit mit den Gemeinden in Form von Pilotprojekten erprobt.